Als der neapolitanische Schriftsteller und Journalist Roberto Saviano sein tief recherchiertes Buch GOMORRHA 2004 veröffentlichte, veränderte sich sein Leben drastisch. Fortan von Morddrohungen heimgesucht, steht Saviano seit dem unter Polizeischutz und musste eine Zeit lang untergetaucht bleiben, da er ein fetter Dorn im Auge der süditalienischen Mafia geworden ist. Mit seinem Buch lieferte er Hintergründe über das Wirtschaftssystem der Camorra, über Schmuggel, illegale Waffen, Drogenhandel und Produktfälschungen – und er nennt Namen. Der Film hat nun Passagen und Zusammenhänge aus dem Buch zur Vorlage, welches später mit der Serie GOMORRHA (2014) weiter verfilmt worden ist.  Es ist ein trister, kompromissloser Film über das Leben in der Mafia geworden und hat so gar nichts mit DER PATE (1972) und Co zu tun. Prokino hat den Film nun erstmals auf Blu-ray veröffentlicht.

Originaltitel: Gomorra

Regie: Matteo Garrone

Darsteller: Salvatore Abruzzese, Toni Servillo, Maria Nazionale, Salvatore Cantalupo

Artikel von Kai Kinnert

Macht, Geld, Blut. Damit werden die Einwohner der Provinzen von Neapel und Caserta tagtäglich konfrontiert. Nur eine privilegierte Minderheit kann überhaupt daran denken, ein „normales“ Leben zu führen. Von den anderen, den nicht Privilegierten, erzählt „Gomorrha“:
Marco und Ciro sind überzeugt, ihr Leben sei buchstäblich Brian de Palmas „Scarface“ entsprungen. Aber innerhalb des Systems haben sie das Ansehen zweier streunender Hunde, deren wagemutige Handlungen die Geschäftsroutine gehörig durcheinanderbringen. Als sie bei einem Raubüberfall Drogen erbeuten und im Anschluss ein verstecktes Waffenarsenal der Camorra ausheben, bekommen sie es mit den echten Mafiabossen zu tun.

So richtig geil ist das Mafia-Leben nicht. Wer sich für das „System“ entscheidet, denn so wird die Gomorrha genannt, ist eigentlich am Ende. Mit einem Bein im Grab. Geld ist der einzige Dreh- und Angelpunkt um den es geht. Es gibt keine Ehre, kein Respekt oder einen coolen Glanz, in dem man sich suhlen könnte. Alles ist Kurzlebig. Es geht nur um die Macht, Menschen töten zu können. Und damit Leute nicht getötet werden, spielen sie mit, zahlen jeden Preis, partizipieren vielleicht noch vom System und werden am Ende doch erschossen. Neapel wird bis heute von zwei Familien beherrscht und es heißt, dass es kein Geschäft in Neapel gibt, dass nicht an eine der Familien seinen Obolus abdrückt. Die Altstadt von Neapel ist zudem noch der Hotspot der Babygangs, 13jährige aus meist „gutem Hause“ und keinem Clan zugehörend, die in den wenigen Straßen, in denen kein Capo wacht, äußerst brutal vorgehen. Wer als Tourist am Hauptbahnhof von Neapel schon mal gespürt hat, wie jemand von Hinten einem in die Hosentaschen greift, weiß, dass man da lieber still hält. Natürlich hat man als Tourist in Neapel nichts in den Hosentaschen, trägt keinen Schmuck und posiert nicht in den Seitenstraßen mit dem iPhone für das Selfie. Und wer schon mal morgens die dicken Rauchsäulen in den Hügeln rund um Sorrent, unweit von Neapel, gesehen hat, durfte Zeuge der illegalen Müllkippen werden, die dort vor sich hin brannten. Süditalien ist die Müllkippe Europas, von Quecksilber bis zum medizinischen Sondermüll aus deutschen Krankenhäusern wird dort alles vergraben oder verbrannt. Alles ist nur ein Geschäft, immer geht es ums Geld und seine Maximierung. Auch in GOMORRAH geht es in einer Nebenhandlung um den Sondermüll und beschreibt, wie man darüber verhandelt, jährlich 800 Tonnen chemische Abfälle in Neapel zu versenken. Das haben sich nicht die Drehbuchautoren ausgedacht, das passiert dort tatsächlich.

Und so betrachtet der Film nüchtern und kühl das Leben und Sterben von Menschen, die in diesem System gelandet sind. Sei es der Schneidermeister, der für die Fälscherwerkstätten in Neapel teure Abendkleider berühmter Designer billigst herstellt, die 9jährigen Bengel, die als Beobachter ins System hineinwachsen oder eben Marco und Ciro, die von eigener Macht träumen und in den Sümpfen vor Neapel das gefundene Waffenarsenal ausprobieren. Zwei pubertäre Irre in Unterhosen ballern kreischend mit der AK 47 ins Schilf und wirken dabei alles andere als cool. Unspektakulär und meist aus der Hand gefilmt, klebt GOMORRAH an seinen Figuren, ist dabei, wenn der Ritus seine Anhänger frisst. Der Tod kommt schnell und blutig, hat nichts heldenhaftes oder eine durchdachte Choreographie. Man verreckt einfach und es ist immer dreckig. Auch Marco und Ciro bekommen auf die Fresse von den Bossen, denn die beiden haben die Tendenz zur Babygang und das ist ein Problem.

Der Streifen ist eigentlich so was wie der indirekte Pilotfilm zur späteren TV Serie. Viele Handlungen, wie Babygangs, illegale Müllkippen, Drogenhandel, Waffen oder wo eigentlich der Nachwuchs herkommt und nach welchen Prinzipien hier gelebt wird, wurden später durch die Serie ausführlicher behandelt. Der Film ist ein kompromissloses Abbild neapolitanischer Realitäten und verzichtet, noch mehr als die Serie, auf verherrlichende Lebensumstände und zeigt auch keine Lösungen auf.

GOMORRAH – REISE IN DAS REICH DER CAMORRA ist eine nüchterne Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes in schlichten und dennoch gut gewählten Bildern. Wer bei Mafia-Filmen an Coppola oder Scorsese denkt, wird hier enttäuscht werden, denn künstlerische Hollywood-Artistik mit coolen Sprüchen in breiten Bildern ist in dem Film von Matteo Garrone nicht zu finden. Wer allerdings die TV Serie schon gut findet oder es gerne realer und handgemachter mag, darf hier getrost einen Blick wagen. Der Streifen ist ein echter Mafia-Film.

Das Bild ist gut, der Ton auch. Als Extras gibt es auf der BD sieben zusätzliche und erweiterte Szenen.

Trailer:

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