Jetzt wirds unangenehm bei den Medienhuren. Denn heute befassen wir uns mit Gaspar Noés Vergewaltigungs-Skandalfilm IRREVERSIBEL aus dem Jahr 2002, der jüngst von ARTHOUSE / STUDIOCANAL mit einer Neuauflage versehen wurde. Hintergrund hierbei ist, dass der Regisseur seinen einst rückwärts erzählten Film nun in chronologische Reihenfolge gebracht hat im sogenannten Straight Cut. Ein interessantes Experiment, zumal beide Versionen der Veröffentlichung beigelegt wurden. Beim Neuschnitt entstand ein völlig neuer Film, der eine komplett andere Wirkung erzielt, als die verstörende Erstfassung. Welche Version besser funktioniert, erfahrt Ihr im Artikel.

Regie: Gaspar Noé

Darsteller: Vincent Cassel, Monica Belluci, Albert Dupontel, Jo Prestia

Artikel von Christian Jürs

Wie gibt man den Inhalt eines Filmes wieder, der sowohl in einer chronologischen, als auch in einer rückwärts erzählten Version vorliegt? Erwähne ich den Anfang des neuen Straight Cuts, spoiler ich automatisch das Ende der Kinofassung und umgekehrt. Also erwähne ich ausnahmsweise nur, was allgemein auch den Lesern bekannt sein dürfte, die Irreversibel bislang noch in keiner Version gesehen haben.

Grob erzählt, handelt die Geschichte von Alex (Monica Belluci) und ihrem derzeitigen Partner Marcus (Vincent Cassel). Beide planen, abends mit ihrem Bekannten Pierre (Albert Dupontel) in einem Club ordentlich abzufeiern. Was nach einem spaßigen Abend klingt, gerät jedoch zum Albtraum, als sich das junge Glück streitet und Alex allein den Heimweg antritt. In einer einsamen Fußgängerüberführung wird sie von einem Unbekannten angegriffen, schwer misshandelt und vergewaltigt. Als Marcus und Pierre am Ort des Geschehens eintreffen, wird die ins Koma gefallene Alex gerade vom Krankenwagen abtransportiert. Marcus sinnt auf Rache und so machen sich die beiden Freunde auf, um auf eigene Faust den Täter zu ermitteln und zu stellen…

Skandal!“ schrie das Publikum vor 18 Jahren in Cannes, als Irreversibel dort seine Premiere feierte. Gleich zu Beginn wurde man Zeuge einer unglaublichen Gewalttat, die die ersten Zuschauer aus dem Saal trieb. Bei einer schwindelerregenden Kamerafahrt kurze Zeit später wurde einem weiteren Teil des Publikums schlecht und wer bis dahin noch im Saal verweilte, dem kam die Suppe spätestens bei der mehrminütigen, brutalen Vergewaltigungsszene hoch. Sowas hat man nun davon, wenn man unvorbereitet den Saal zu einem Film von Skandalregisseur Gaspar Noé betritt. Die Vorabsichtung seines Erstlings Menschenfeind hätte eine vage Ahnung hervorrufen können, worauf sich der Zuschauer einlässt. Doch zugegeben, die Vergewaltigungsszene in Irreversibel toppt auch jedes noch so geschmacklose I spit on your Grave Sequel an Intensivität um Längen und dürfte, vor allem bei den weiblichen Zuschauern, für Unbehagen sorgen. Dies ist, neben der intensiven Kameraarbeit, vor allem dem grandiosen Schauspiel Monica Bellucis geschuldet. Dagegen sind Noe´s spätere Werke Climax und Enter the Void wahre Wohlfühlfilme geworden.

Wie bereits Memento, der rückwärts erzählte Krimi von Christopher Nolan, so erhielt nun auch Irreversibel eine chronologisch erstellte Schnittfassung. Doch während bei Ersterem die Luft durch die lineare Erzählweise komplett raus war und der Film dadurch zum langweiligen Stinker geriet (nicht umsont wurde diese Version lediglich im Bonusmaterial versteckt), funktioniert hier auch die „normale“ Erzählung, wenn auch nicht ganz so gut wie in der schockierenden Originalversion. Denn auch wenn die Grundaussage von der Sinnlosigkeit von Gewalt auch im 2020er Schnitt erhalten blieb, so gerät der Film doch, abgesehen von den schockierenden Gewaltausbrüchen, nahezu konventionell. Die Kinofassung hingegen schockiert zunächst mit scheinbar sinnloser Gewalt, die erst im Nachhinein Sinn ergibt. Das Ende der Kinofassung, welches, obwohl es vor all den schrecklichen Dingen angesiedelt, beim Publikum aufgrund einer pikanten Information einen weiteren Schock auslöst, ist das eigentliche i-Tüpfchelchen von Irreversibel. Im Straight Cut erhält diese Szene, da direkt an den Anfang gesetzt, zunächst keinerlei Relevanz. Deswegen, auch wenn die neue Version durchaus sehenswert ist, sollte man sich bei Erstsichtung unbedingt für die Kinofassung entscheiden.

Die Synchronisation ist identisch zur 2002er Version, denn der neuen Fassung wurden keine neuen Szenen hinzugefügt. Im Gegenteil, der Straight Cut ist sogar ein paar Minuten kürzer geraten, da diverse Kamerafahrten bei den Zeitsprüngen nun nicht mehr notwendig waren. Außerdem wurde ein kurzer Part mit korpulierenden Pärchen im Club ebenfalls verkürzt. Eine Zensur stellt dies jedoch nicht dar.

Bild- (2,35:1) und Tonqualität (Deutsch & Französisch in DTS-HD Audio Master 5.1 / Französich zusätzlich in 2.0) sind fantastisch. Zwei Audiokommentare, einer vom Regisseur und ein weiterer vom Filmwissenschaftler Dr. Marcus Stiglegger, gibt es bei der Kinofassung oben drauf, ebenso wie eine Featurette zu den Spezialeffekten (ca. 7 Minuten). Der Straight Cut besitzt eine Featurette zum Neuschnitt (ca. 41 Minuten) und den Trailer.

Irreversibel ist ein Skandalfilmklassiker, der sowohl im alten- als auch im neuen Gewand funktioniert, auch wenn die 2002er Version klar die Nase vorn hat. Ein verstörender, provozierender Film, bei dem selbst die berüchtigte Vergewaltigungsszene so schön gefilmt ist, dass man jederzeit den Film pausieren könnte und dabei ein Bild generiert hätte, welches man ohne Vorbehalte als Deko an die Wand im Esszimmer hängen könnte. Wer sich darauf einlässt, den erwartet hier eine besondere, nicht einfache, Filmerfahrung. Zarte Gemüter sollten vielleicht stattdessen lieber Disney+ abonnieren.

Trailer:

Zurück zur Startseite