Stellt euch vor, euer Partner, oder eure Partnerin, will nur mal eben schnell ein paar Getränke kaufen, kehrt aber nicht mehr zurück und jeglicher Versuch, sie oder ihn zu finden endet in einer Sackgasse. Eine ziemlich grausige Vorstellung, bei der man im Nachgang mit dem Schlimmsten rechnen muss. Genau diesen Sachverhalt behandelt George Sluizer in seinem bösartig nachhallenden Thriller-Meisterstück SPURLOS VERSCHWUNDEN (1988), der nach jahrelanger, stiefmütterlicher Behandlung nun endlich seinen Weg in das HD-Zeitalter gefunden und von Studiocanal eine Veröffentlichung auf Blu-Ray spendiert bekommen hat. Warum der Film eine solche Wirkung hat, erfahrt ihr in unserer Kritik!

Originaltitel: Spoorloos

Drehbuch: George Sluizer, Tim Krabbé; basierend auf dem Roman „Het Gouden Ei“ von Tim Krabbé
Regie: George Sluizer

Darsteller: Bernard-Pierre Donnadieu, Gene Bervoets, Johanna ter Steege, Gwen Eckhaus…

Artikel von Christopher Feldmann

Was muss ein guter Thriller mitbringen? Eine Frage, die man sich oft stellt, wenn es um dieses spezifische Genre geht. Ein Thriller sollte in erster Linie spannend sein, eine mitreißende und ordentliche Geschichte bieten und im Idealfall mit guten Schauspielern aufwarten. Gute Thriller sind heutzutage nicht mehr jede Woche zu finden, wurde das Pulver für prägende Stoffe, in meinen Augen, in den letzten Dekaden Filmgeschichte verschossen. Mit kaum einer anderen filmischen Gattung bin ich deshalb so kritisch, denn ein guter Thriller muss auf allen Ebenen funktionieren. Besonders herausragend, sind jene Werke, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, an denen man zu knabbern hat und die einen mit einem echten Paukenschlag entlassen, so dass man sie noch tagelang im Kopf hat. SIEBEN (1995) ist so ein Musterbeispiel, hat David Finchers Meisterwerk doch gefühlt jedem bei der Erstsichtung die Schuhe ausgezogen. Aber auch Mystery-Streifen THE SIXTH SENSE (1999) haben durchaus ihre Daseinsberechtigung. SPURLOS VERSCHWUNDEN (1988), eine kleine französisch-niederländische Ko-Produktion, reiht sich ebenfalls in die Riege der Magengrubenschläger ein, denn auch hier sorgt der fiese Pay-Off für ein stark mulmiges Gefühl. Aber auch abseits dieses Kunstgriffs, ist George Sluizers bitterböser Slow-Burner ein kleiner Diamant.

Handlung:
Für das frisch verliebte Pärchen Rex (Gene Bervoets) und Saskia (Johanna ter Steege) sollte es ein entspannter Urlaub werden, als sie mit den Fahrrädern im Gepäck ihre Reise nach Frankreich antraten. An einer international frequentierten Autobahnraststätte will Saskia nur kurz Getränke kaufen, während Rex mit Vorfreude auf seine Freundin wartet, doch die schöne Blondine taucht nicht wieder auf. Panisch sucht er die gesamte Raststätte ab aber keine Spur, Saskia ist spurlos verschwunden. Es vergehen mehrere Jahre, in denen die Ungewissheit über ihr Verschwinden, Rex zum psychischen Wrack hat werden lassen. Mit Fernsehauftritten und Plakaten versucht er immer noch obsessiv, seine Freundin zu finden, sehr zum Leidwesen seiner aktuellen Lebensgefährtin Lieneke (Gwen Eckhaus). Sein Leben ändert sich schlagartig, als er den Chemie-Lehrer Raymond (Bernard-Pierre Donnadieu) trifft, der ihm offenbart zu wissen, was mit der verschwundenen Blondine passiert sei. Rex ist sich sicher, dass er den Entführer Saskias vor sich hat.

SPURLOS VERSCHWUNDEN folgt überraschenderweise nicht den gängigen Konventionen, sondern bricht gekonnt mit den Erwartungen des Zuschauers. Die Frage, wer für Saskias Verschwinden verantwortlich ist, wird schnell geklärt und nur das Schicksal, welches sie erfahren hat, bleibt letztendlich offen. SPOORLOOS, so der Originaltitel, ist weniger eine klassische Mystery-Geschichte, sondern Film über Obsessionen. Basierend auf dem Roman HET GOUDEN EI von Tim Krabbé, dem Bruder von Bond-Bösewicht Jeroen Krabbé, erzählt Sluizers abgründiges Stück die Geschichte von zwei Männern, die obsessiv ihrer „Bestimmung“ nachgehen. Während Rex fieberhaft nach Saskia sucht, ohne Rücksicht auf finanzielle Sorgen, seine Gesundheit und die Gefühle seiner aktuellen Partnerin, und dem Wahnsinn sichtlich nahe zu sein scheint, lernen wir parallel dazu Raymond kennen, einen Soziopathen, der sich vorgenommen hat, die, seiner Meinung nach, schlimmste Tat zu begehen, die sich ein Mensch ausdenken kann.

Raymond ist weniger der geisteskranke Triebtäter, der in seinem Keller Frauenkörper in Einzelteile zerlegt, sondern mehr ein höchst kontrollierter, logisch denkender Mensch, für den diese „schlimme Tat“ eine Art Experiment darstellt. Der Chemie-Lehrer und Familienvater ist unfähig, wirkliche Empathie zu empfinden, selbst als er, vor den Augen seiner Familie, ein kleines Mädchen aus einem Fluss rettete, bedeutete ihm die Anerkennung seiner Töchter nichts. Laut ihm, kann weiß nicht ohne schwarz existieren, weshalb er erst eine schlimme Tat begehen müsse, um beide Erfahrungen vergleichen zu können. Für den Zuschauer spielen sich nun zwei obsessive Lebensarten nebeneinander ab, zum einen Rex, der immer weiter nach seiner verschwundenen Freundin sucht und zum anderen Raymond, der sich akribisch und konzentriert darauf vorbereitet, eine junge Frau zu entführen.

George Sluizer, der gemeinsam mit Krabbé das Drehbuch erarbeitet hat, verzichtet darauf, Raymond als dämonischen Unhold darzustellen. Fast schon dokumentarisch widmet sich der Film dem Alltag des soziopathischen Logikers. Wir werden Zeuge, wie er die Wirkung von Betäubungsmitteln testet und minutiös Entfernungen und Zeiten berechnet. Raymond hat seine Leidenschaft entdeckt, die er auch, natürlich verschlüsselt, seiner Frau erklärt. SPURLOS VERSCHWUNDEN ist voll von fiesen Szenen, die mit einer solchen Nüchternheit und objektiven Betrachtungsweise dargestellt werden, dass sich das Geschehen förmlich einbrennt. Sluizer spart sich extrovertierte Kameraspielereien und artifiziellen Taschenspielertricks, seine Inszenierung hat etwas dokumentarisches und verzichtet auf eine Romantisierung bekannter Thriller-Strukturen. Erst am Ende holt der Film zum Rundumschlag aus und serviert dem Zuschauer eine fiese Pointe, die mich beim ersten und auch beim zweiten Mal nachhaltig beschäftigt hat. SPOORLOOS hat über die Jahre nicht an Kraft eingebüßt und funktioniert heute noch tadellos. Wer hier allerdings Tempo erwartet, sollte auf der Hut sein. Sluizer lässt sich Zeit für seine Charaktere, ihre Hintergründe und die Entwicklungen, die sich aus den Überschneidungen ergeben. Erst dann entwickelt sich das Ganze zum Psycho-Thriller, der seinem Genre am Ende alle Ehre macht.

Die Darsteller, von denen es gar nicht mal so viele gibt, machen ihren Job ganz ausgezeichnet. Die anspruchsvollste Rolle hat Bernard-Pierre Donnadieu inne, denn die Figur des Raymond ist nicht gerade einfach und lädt schnell dazu ein, in gängige Klischees zu verfallen. Dies umgeht Donnadieu perfekt und hält gekonnt die Balance zwischen einer normalen Freundlichkeit und einer, im Unterbewusstsein brodelnden, Bedrohung. Selbst Humor blitzt immer wieder auf und in manchen Szenen kann man sich das Schmunzeln nicht verkneifen, wenn Raymond noch lernen muss, wie man Frauen ins Auto lockt. Gene Bervoets verkörpert mit einer manischen Hingabe den gebeutelten Rex, während Johanna ter Steege zwar nicht viel Screentime hat aber einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Der Moment, in dem sie Raymond in die Falle geht, nimmt mich immer wieder mit. Zusätzlich zu dem ausnahmslos gelungenen Konstrukt, wartet SPURLOS VERSCHWUNDEN mit vielen Kleinigkeiten auf, die es zu entdecken und zu deuten gilt. Vom Sinnbild des goldenen Eis, bis hin zu kleinen Hinweisen, die darauf schließen lassen, was letztendlich mit Saskia geschehen ist.

Studiocanal hat nun endlich dafür gesorgt, dass Sluizers Meisterwerk in sehr guter Bild- und Tonqualität im Heimkino zu kaufen ist. Die Blu-Ray punktet mit ausgezeichneter Schärfe und gutem Kontrast, ein großer Fortschritt gegenüber der alten DVD, die schon länger out of print ist. Extras gibt es hier leider keine, dafür aber ein Remake, welches Sluizer höchstpersönlich für ein amerikanisches Publikum drehen durfte. Mit Hollywood-Größen wie Kiefer Sutherland, Jeff Bridges und Sandra Bullock prominent besetzt, erschien SPURLOS im Jahr 1993, konnte aber nicht an die Qualität des Originals anknüpfen, zumal das Ende fast schon ad absurdum geführt wurde und der nachhaltige Effekt nicht mehr vorhanden war.

Fazit:
SPURLOS VERSCHWUNDEN (1988) ist Pflichtprogramm für Thriller-Fans, die sich gerne mal den üblichen Motiven entziehen wollen. George Sluizer hat hier einen schonungslosen und perfiden Slow-Burner inszeniert, der noch lange im Gedächtnis bleibt. Wahrscheinlich nicht jedermanns Tasse Tee, wer aber ausgeklügeltes Spannungs-Kino erleben will, ist hier an der absolut richtigen Adresse.

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