Wenn der Inspektor zweimal klingelt…! Die BBC zeichnet sich seit vielen Jahren für gehobene Krimiunterhaltung verantwortlich, auf einem Niveau von Raffinesse und Eleganz, welches die deutsche Konkurrenz stets alt aussehen lässt. Dass man sich dabei immer mal wieder bereits bekannten Stoffen bedient, spielt dabei gar keine große Rolle, denn schlussendlich zählt das Ergebnis. AN INSPECTOR CALLS (2015) ist eine Adaption des gleichnamigen Theaterklassikers von J.B. Priestley und nicht einfach nur ein gewöhnlicher Krimi im Stil von Agatha Christie und Co., sondern ein raffiniertes, aufwühlendes und zum Nachdenken anregendes Drama. Pandastorm Pictures hat den TV-Film hierzulande erstmals als Blu-ray veröffentlicht. Warum es sich hierbei um eine Empfehlung für Fans des Genres handelt, erfahrt ihr in unserer Kritik.

Originaltitel: An Inspector Calls

Drehbuch: Helen Edmundson; nach dem gleichnamigen Theaterstück von J.B. Priestley

Regie: Aisling Walsh

Darsteller: David Thewlis, Ken Stott, Miranda Richardson, Finn Cole, Chloe Pirrie, Kyle Soller, Sophie Rundle…

Artikel von Christopher Feldmann

Als bekennender Krimiliebhaber war die neueste Veröffentlichung aus dem Hause Pandastorm Pictures unumgänglich, immerhin steht die BBC für eine jahrzehntelange Krimikultur im britischen Fernsehen, die ihres Gleichen sucht, immerhin sorgten diese für einige gelungene Neuinterpretationen bekannter Agatha-Christie-Klassiker wie AND THEN THERE WERE NONE (2015) oder THE WITNESS FOR THE PROSECUTION (2016). Auch der legendäre Poirot-Fall THE ABC MURDERS wurde 2018 als dreiteiliges Serienevent adaptiert, mit John Malkovich in der Hauptrolle. Von anderen hochangesehenen Formaten wie SHERLOCK (2010-2017) und LUTHER (2010-2019) wollen wir jetzt nicht anfangen. Wenn über diese Wege eine derartige Form von Unterhaltung erscheint, bin ich grundsätzlich erstmal dabei und ohne Kenntnis des zu Grunde liegenden Theaterstücks von 1946 wagte ich mich freudig an AN INSPECTOR CALLS (2015) und war überrascht, bekam ich statt einem kammerspielartigen Whodunit doch ein von Plädoyers gezeichnetes Sozialdrama, das aktueller gar nicht sein könnte.

Handlung:

Eigentlich hätte es ein festlicher Abend für Familie Bering sein sollen. So wollten die Eltern Arthur (Ken Stott) und Sybil (Miranda Richardson) feiern, dass ihre Tochter Sheila (Chloe Pirrie) sich mit Gerald Croft (Kyle Soller) verlobt hat. Auch Sohn Eric (Finn Cole) sitzt mit am Tisch, selbst wenn dieser darüber nicht allzu glücklich ist und schon seit längerem die Situation daheim angespannt ist. Doch davon soll die Feierlaune nicht getrübt werden, man ist fest entschlossen, den Abend zu genießen. Dieser Plan wird aber jäh unterbrochen, als sich plötzlich Inspector Goole (David Thewlis) ankündigt. Dieser berichtet von dem Selbstmord einer jungen Frau namens Eva Smith (Sophie Rundle) und will dazu die Berings befragen. Zunächst sträuben die sich dagegen. Was interessiert sie schon eine dahergelaufene Fremde? Im Laufe der Gespräche wird jedoch klar: So fremd war die Verstorbene gar nicht …

Man kennt sie, die gängige Struktur klassischer Krimis. Über die Jahrzehnte hat sich eine Form entwickelt, die man als Whodunit bezeichnet, bei der die Frage im Raum steht, wer das thematisierte Verbrechen begangen hat. Das Rätsel um den Täter und das Hinarbeiten auf das Entlarven ist wahrscheinlich einer der ältesten Spannungsträger der Literatur und auch des Films. Whodunits funktionieren eigentlich immer, sofern die Geschichten gut konzipiert und die Figuren gut ausgearbeitet sind. In den meisten Kriminalfilmen dieser Machart, besonders bei denen, die auf Werke von Agatha Christie zurückzuführen sind, gibt es immer diesen großen dritten Akt, in dem der Ermittler oder Detektiv alle Verdächtigen, die der Zuschauer oder eben Leser im Verlauf der Handlung kennengelernt hat, um sich schart und minutiös die den Tathergang und das Motiv erläutert, bevor er schlussendlich die oder den Schuldige(n) entlarvt und alle losen Fäden zusammenführt.

AN INSPECTOR CALLS ist insofern erfrischend anders (und das obwohl der Plot bereits über 70 Jahre auf dem Buckel hat), dass der Film sich quasi komplett dem letzten Akt verschreibt. So betritt Inspektor Goole schon zu Beginn das edle Esszimmer der Familie Birling, die gerade dabei ist, die Verlobung der Tochter zu begießen und leitet ein Verbrechen her, das bei genauerer Betrachtung eigentlich keines ist, sondern Selbstmord. Dennoch haben die einzelnen Familienmitglieder einen erheblichen Teil dazu beigetragen, dass dieser geschehen ist. Was sonst immer das pompöse Finale darstellt, ist hier die ganze Handlung, wobei es die Geschichte schafft, ganz gut mit den Erwartungen des unkundigen Zuschauers zu spielen, der natürlich nur auf den Twist wartet, der alles verändert und die Ereignisse in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Doch diese Wendung setzt nie so richtig ein, handelt es sich bei AN INSPECTOR CALLS doch keinesfalls um einen klassischen Krimi, sondern um ein Drama, das mich tatsächlich kalt erwischt hat, erwartete ich doch ein ganz normales Täterraten im altmodischen Stil.

Die Geschehen spielt sich fast vollständig im Esszimmer der Birlings ab und wird hin und wieder von Rückblenden unterbrochen, die einzelne Erkenntnisse bildlich darstellen. So entsteht eine dichte Atmosphäre, in der die Befragung durch den Inspektor noch intensiver erscheint. Jedes einzelne Familienmitglied hat eine Verbindung zu der Frau, die sich das Leben nahm und jede dieser Verbindungen ist mit einer Art Schicksal verknüpft, dass Leid und Kummer zur Folge hatte.

Tatsächlich ist die Kriminalfilm-Ästhetik und die Erzählform nur eine Plattform für ganz besondere sozialkritische Themen, die nicht nur für das Jahr 1912, in dem die Geschichte spielt, relevant waren, sondern auch in unsere aktuelle Zeit passen. So geht es in erster Linie um soziale Verantwortung, um das Miteinander und um Solidarität gegenüber schwächer gestellten Menschen. Die Tote hatte es in ihrem Leben nie einfach und wurde Opfer kleiner aber entscheidender Vorkommnisse, die besonders durch die damals noch gravierenden Klassenunterschiede hervorgerufen wurden. Projiziert man dies auf das aktuelle Zeitgeschehen, in dem die Pandemie uns fest im Griff hat und Solidarität, sowie Miteinander gefragt ist, kommt man schon ins grübeln und erkennt wie wichtig es ist, sich nicht nur um sich selbst zu drehen, sondern auch anderen zu helfen wenn sie Hilfe brauchen, soziale Verantwortung eben. Jedes schlechte Verhalten, jede Beleidigung und jeder Fehltritt, sowohl im Beruf als auch im Privaten kann weitreichende Folgen haben, über die wir uns eigentlich keine Gedanken machen.

Darüber hinaus thematisiert AN INSPECTOR CALLS noch Klassenunterschiede und die Rolle der Frau, wurde diese 1912 doch wesentlich geringschätzender behandelt. Emanzipation gab es noch nicht und trotzdem ist Gleichberechtigung auch heute noch ein großes Thema, weshalb die Elemente des Films gar nicht so weit weg sind, wie man auf den ersten Blick denken könnte. Inszenatorisch bewegt sich das Ganze auf dem gängigen TV-Standard, den man aus Groß-Britannien gewohnt ist. Zwar ist das Setting klein aber die Kamera fängt das Spiel mit der Schuld gut ein, während die Ausstattung mal wieder sehr gelungen ist. Hier sieht man einmal mehr wie viel Liebe zum Detail in derartige Produktionen gesteckt wird und mit 90 Minuten Laufzeit verliert sich das Kammerspiel auch nie in akute Längen. Die letzten Minuten sind dann nochmal besonders schön, eröffnen sie doch eine weitere Ebene und demaskieren die wahren Unmenschen noch weiter, denn hier zeigt sich, wer wirklich bereut und wer nicht.

Getragen wird dies natürlich durch ein gut aufgelegtes Ensemble, unter anderem bestehend aus einem großartigen Ken Stott als Familienpatriarch, der natürlich den gängigen Klischees entspricht, diese aber perfekt in Szene zu setzen weiß. Auch Miranda Richardson, ebenfalls ein bekanntes Gesicht aus Film und Fernsehen, gibt mit Bravour die Ehefrau, die zwischen Führsorge und Kälte zu wechseln weiß. Auch die restlichen Darsteller Finn Cole, Chloe Pirrie und Kyle Soller machen einen guten Job, während lediglich Sophie Rundle etwas blass bleibt, obwohl ihre Rolle eigentlich die wichtigste darstellt. Dazu gesellt sich noch David Thewlis, der den nüchternen Inspektor mit moralischem Apell gibt. Insgesamt sehr gelungen.

Die Blu-ray von Pandastorm Pictures bietet sehr gute Bild- und Tonqualität, das Keep-Case ist mit einem Wendecover ausgestattet.

Fazit:

Wer bei AN INSPECTOR CALLS (2015) einen klassischen Rätselkrimi ála Agatha Christie erwartet, könnte enttäuscht werden. Wer sich allerdings auf etwas Tiefgang einlassen kann, bekommt ein erschreckend aktuelles Sozialdrama geboten, das nicht nur zu fesseln weiß, sondern den Zuschauer auch für mehr soziale Verantwortung sensibilisiert. Eine Empfehlung für alle Freunde der etwas anderen Unterhaltung, die gutes, gesellschaftskritisches Material zu schätzen wissen.

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