Dass die Skandinavier Genrekino beherrschen bewiesen zuletzt wieder eindrucksvoll die Filme THE INNOCENTS (2022) und HATCHING (2021). Nun gibt es Nachschub, allerdings in Form einer Art Tragikomödie, die nicht nur einen nüchternen Blick auf das Thema Beziehungen wirft, sondern auch die Orientierungslosigkeit in der modernen Gesellschaft portraitiert. DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT (2021) avancierte zum Festival-Hit bei den Filmfestspielen in Cannes und auch die Academy bedachte den Film mit zwei Oscar-Nominierungen. Noch diesen Monat erscheint Joachim Triers Werk über Plaion Pictures (vormals Koch Films) im hiesigen Heimkino. Ob die Vorschusslorbeeren gerechtfertigt sind, erfahrt ihr im Artikel.

Originaltitel: Verdens verste menneske

Drehbuch: Eskil Vogt, Joachim Trier

Regie: Joachim Trier

Darsteller: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum, Hans Olav Brenner, Helene Bjørneby…

Artikel von Christopher Feldmann

Ich für meinen Teil gehöre ja zu jenen Filmfans, die nicht nur die aktuellen Kinostarts im Blick haben, sondern auch gerne mal darauf achten, was gerade so durch die internationalen Festivals tingelt und für gute bis begeisterte Reaktionen sorgt. Ein wichtiger Indikator für gute Filme sind, neben dem Sundance Film Festival, die Filmfestspiele in Cannes. Mit ihrem vielfältigen Programm bedienen die Verantwortlichen sowohl Arthouse- als auch Genrepublikum und nicht selten sorgen die Festivalgewinner auch bei der breiten Masse, wohlgemerkt im Kosmos der Cineasten und Nerds, für zufriedene Gesichter. Im letzten Jahr sprachen viele vom norwegischen Beitrag mit dem Titel DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT (2021), der gerade von der Fachpresse oft als neues Highlight im Bereich der romantischen Komödien bezeichnet wurde. Interessierte Zuschauer sollten sich aber davon nicht täuschen lassen, denn Joachim Triers Film ist viel mehr ein Beziehungsdrama, gepaart mit gesellschaftlicher Aufarbeitung, verpackt in eine episodische, leichtfüßige Handlung. Und trotz der nicht abzustreitenden Arthouse-Vibes, vermochte der Film, mich blendend zu unterhalten und auch die eigene Reflektion anzuregen.

Handlung:

Wo ist nur die Zeit geblieben? Julie (Renate Reinsve) wird bald dreißig und kann es kaum glauben. Während ihr über zehn Jahre älterer Freund Aksel (Anders Danielsen Lie) als erfolgreicher Comicbuch-Autor durchstartet, kann sie auf ihre abgebrochenen Studiengänge nicht wirklich stolz sein. Seriöser Familienplanung geht sie lieber aus dem Weg. Zu viel scheint für sie noch möglich. Was Julie eigentlich will? Zukunft, vermutlich, und eine glückliche bitte, wenn’s geht. Nur wie ist das anzustellen? Auf einer Hochzeitsparty trifft sie den charmanten Eivind (Herbert Nordrum) – und für eine Nacht steht die Zeit still. Das muss Liebe sein. Zum ersten Mal ist sich die sonst so unentschlossene Julie einer Sache sicher. Jedoch fällt ihr die nahende Trennung von Aksel deutlich schwerer als gedacht. Ist Eivind wirklich der richtige Mann fürs Leben? Wieder meldet sich Julies wankelmütiges Wesen – sie ist einfach der hoffnungslos schlimmste Mensch der Welt, oder?

DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT stellt den Abschluss von Joachim Triers sogenannter Oslo-Trilogie dar. Zwar hat der Film rein inhaltlich mit AUF ANFANG (2006) und OSLO, 31. AUGUST (2011) nichts gemein, jedoch verbinden alle drei Werke ähnliche Themen, mit denen Trier mal mehr, mal weniger dramatisch in die Gesellschaft eintaucht. Waren die Protagonisten der beiden vorherigen Filme männlich, stellt Trier nun eine Frau in den Mittelpunkt der Geschichte.

Betrachtet man sich die einzelnen Themen genauer, entdeckt man natürlich das perfekte Material, um daraus eine handelsübliche romantische Komödie zu stricken, wie man sie zuhauf kennt. Trier und sein Co-Autor Eskil Vogt, Regisseur und Schreiber des großartigen THE INNOCENTS (2022), packen die Sache allerdings etwas differenzierter und auch ambivalenter an und verzichten bewusst auf platten Humor und eine heitere Selbstfindung mit Happy-Ende. Und genau das macht den Film so erfrischend. In zwölf einzelnen Kapiteln, plus Prolog und Epilog, zeichnen sie das Leben von „Julie“ nach, die selbst nicht weiß, was sie vom Leben will, welchen Platz sie einnehmen möchte und welchen Weg sie dabei verfolgen sollte. Dabei spielt die heutige Gesellschaft, in der die Möglichkeiten grenzenlos erscheinen, eine entscheidende Rolle. Klar, die alteingesessenen Strukturen, nach denen man sich für einen Beruf entscheidet, heiratet, ein Haus baut und Kinder bekommt, sind mittlerweile nicht mehr in Stein gemeißelt. Das Leben bietet heutzutage so viele Möglichkeiten zur Entfaltung und Selbstverwirklichung, dass es durchaus auch überfordernd sein kann. „Julie“ ist eine Frau mit einem ohnehin wankelmütigen Wesen, die mit sich selbst und dem Leben hadert. So stolpert sie von Studium zu Studium und von Beziehung zu Beziehung, ohne wirklich zu wissen, was sie eigentlich will, was natürlich im Verlauf der Handlung allerlei Auswirkungen auf sie selbst und ihr Umfeld hat. Selbst mit Ende ihrer Zwanziger scheut sich die junge Frau davor, weitreichende Entscheidungen zu treffen, um sich alle Optionen offenzuhalten. Immer wieder geht sie der Diskussion um den Kinderwunsch ihres Partners „Aksel“ aus dem Weg, denn Kinder kriegen ist zu definitiv und vielleicht lernt sie ja noch einen anderen, viel interessanteren Mann kennen. All das sorgt für reichlich Trubel in Julies Leben und wird so zum perfekten Spiegelbild unserer Gesellschaft. Dabei betreibt der Film aber auch keine Schuldzuweisungen, sondern stellt dies als Natur der Sache dar, die sich eben so entwickelt hat. Ein nachdenklich stimmender und authentischer Blick auf die moderne Welt…der Millenials.

Auch andere aktuelle Themen wie MeToo, Emanzipation oder auch Genderdiskussionen werden hier verarbeitet und der Generationskonflikt zwischen alten und neuen Werten wird immer wieder punktuell eingestreut. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, die sich dieser Themen bedienen, bleibt DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT aber immer wertfrei, gut beobachtet und nie aufdringlich. Stattdessen finden all diese Diskussionen immer nebenbei statt, die zentrale Bühne gehört einzig der fantastischen Renate Reinsve, die mit ernormer Strahlkraft und Authentizität ihrer Figur leben einhaucht. „Julie“ ist eine dermaßen alltägliche, geerdete Person, die zwar entgegen des Titels natürlich nicht wirklich der schlimmste Mensch der Welt ist aber durch ihr mangelndes Vermögen endgültige Entscheidungen zu treffen, regelmäßig ihr Umfeld aufwirbelt. Auch Beziehungen spielen eine Rolle und der Film zeigt wie sehr beengend diese sein können, wenn beide Partner unterschiedliche Lebenserwartungen haben. Daraus entspinnt sich schließlich eine episodische, manchmal etwas zu lange, Form von Tragikomödie, die mit natürlichen Dialogen und feinem, unaufdringlichen Humor punktet.

Regisseur Joachim Trier inszeniert das Ganze ebenso geerdet und ruhig, was mich zwischenzeitlich gerne mal an den letztjährigen Skandi-Hit DER RAUSCH (2021) erinnerte. Und trotzdem hat er ein paar großartige Szenen auf Lager, etwa wenn „Julie“ auf einer Party „Eivind“ kennenlernt und beide die Grenzen des Fremdgehens ausloten, was nicht mit Sex, sondern damit endet, dass beide voreinander pinkeln gehen. Auch „Julies“ Aufsuchen ihres Flirts wird mit stillstehender Umgebung wahrlich romantisch eingefangen, auch wenn der Zuschauer weiß, dass dies nicht das Ende sein wird aber der Moment zählt. DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT ist generell ein Plädoyer für die schönen Momente im Leben. Selbst wenn man stolpert, eröffnet sich darauf wieder die Tür zum Glück und auch wenn dieses nicht immer von Dauer ist, sollte man es genießen.

Plaion Pictures (vormals Koch Films) hat sich die Rechte an dem Film gesichert und veröffentlicht ihn noch in diesem Monat im Heimkino. Bild- und Tonqualität der Blu-ray sind einwandfrei. Neben dem Trailer enthält der Blauling noch einige Interviews mit Cast & Crew, u.a. bei den Filmfestspielen in Cannes.

Fazit:

DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT (2022) ist keine klischeebehaftete, romantische Komödie, sondern ein erfrischender, authentischer und differenzierter Blick auf Beziehungen und die moderne Gesellschaft. Zwar ist der Film für meinen Geschmack ein wenig zu lang geraten, die großartige Hauptdarstellerin Renate Reinsve tröstet aber mit Leichtigkeit über die kleinen Längen hinweg. Ein sehenswerter Film, wenn auch für ein Publikum gemacht, das realistische Darstellungen zu schätzen weiß.

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