Da soll nochmal einer sagen, das deutsche Kino wäre tot. Bereits bei seiner Premiere bei den internationalen Filmfestspielen in Venedig im Jahr 2019 sorgte Katrin Gebbes beinhartes Erziehungs-Drama PELIKANBLUT (2019) für Gesprächsstoff. Von der Corona-Pandemie in Sachen Kinoauswertung leider mehr oder weniger verschluckt, hat Leonine den Film nun endlich im Heimkino veröffentlicht. Ob sich die Sichtung lohnt, erfahrt ihr in unserer Kritik!

Originaltitel: Pelikanblut

Drehbuch & Regie: Katrin Gebbe

Darsteller: Nina Hoss, Yana Marinova, Samia Muriel Chancrin, Katerina Lipovska, Daniela Holtz…

Artikel von Christopher Feldmann

In den letzten drei Jahren machten vor allem zwei Filme auf sich aufmerksam, die sich mit der Psyche eines Kindes beschäftigen und dabei ganz unterschiedliche einschlagen. Während Ari Asters Arthouse-Horrorhit HEREDITARY (2018) eher okkulte Themen aufgreift, wählte Regisseurin Nora Flingscheidt für ihren Film SYSTEMSPRENGER (2019) einen weitaus realistischeren aber deswegen noch lange nicht weniger erschreckenderen Ansatz. Beide Werke behandeln das Thema Familie und die Bindung zwischen Eltern und Kindern, nur eben auf unterschiedliche Art und Weise aber mit dem Blick ins Extreme. Katrin Gebbe ließ sich wohl für ihren zweiten Spielfilm PELIKANBLUT (2019) von beiden Vorlagen inspirieren und bringt das Thema „Kindheitstrauma“ auf ein ganz neues Level. Hier wird die Annäherung zwischen Kind und Mutterfigur zur waschechten Tour de Force, die schnell an die Substanz geht. Daraus resultiert ein packendes, stellenweise provokantes Drama, dass ähnlich wie der geistige deutsche Vorgänger genug Nährboden für Diskussionen bietet.

Handlung:

Wiebke (Nina Hoss), die allein einen Reiterhof betreibt, auf dem unter anderem auch eine ganze Pferde-Polizeistaffel für den Einsatz bei Demonstrationen trainiert, hat mit Nicolina (Adelia-Constance Ocleppo) vor einigen Jahren schon mal eine Tochter aus dem osteuropäischen Ausland adoptiert. Ein voller Erfolg – die beiden kommen super miteinander klar. Aber bei der fünfjährigen Raya (Katerina Lipovska) läuft es weniger rund. Nach ein paar schönen ersten Stunden rastet das Mädchen immer wieder aus, sie schmiert das ganze Bad mit Kot voll, spießt tote Tiere auf und zwingt offenbar systematisch schwächere Kinder zu „Doktorspielen“, bei denen sie ihnen etwa Äste in den After einführt. Schließlich muss sogar ihr Kinderzimmer mit einer eigenen Alarmanlage gesichert werden. Aber auch als die Neurologen ihr erklären, dass sich das Verhalten vermutlich nicht mehr bessern wird und sie ihr Adoptivkind lieber in eine spezialisierte Einrichtung geben sollte, kämpft Wiebke weiter – und zwar mit immer extremeren Methoden.

Adoptionen sind nach wie vor ein schwieriges Thema. Natürlich wünscht man sich als zukünftige Eltern, denen die Chance auf eigenes Kind aus biologischen Gründen verwehrt wird, das perfekte Kind, möglichst zugänglich und leicht zu erziehen. Ein Kind, mit dem man guten Gewissens zum nächsten Geburtstag gehen kann und möglichst so liebreizend süß ist, dass man schnell vergisst, dass es rein biologisch nicht das eigene ist. Die Realität sieht aber meistens anders aus, nämlich viel schwieriger. Oftmals sind adoptierte Kinder keine Babys mehr und Opfer von Vernachlässigungen, die dazu führten, dass sie viel Zeit im Heim verbracht haben. Diesen Kindern fehlt sehr oft ein emotionales Gleichgewicht, eine Bezugsperson, eine Anlaufstelle, bei der sie sich geborgen fühlen. Das ist natürlich nicht immer so aber in vielen Fällen der Standard. Somit stehen werdende Eltern meist vor einer schwierigen Aufgabe, nämlich ein neues emotionales Band zu knüpfen, welches das Kind bereit ist anzunehmen.

PELIKANBLUT beschreibt den Extremfall und zeigt, was passieren kann, wenn das adoptierte Kind emotional vollkommen verwahrlost ist, es stets an Liebe und Aufmerksamkeit gemangelt hat, ergo nie vorhanden war. Regisseurin und Autorin Katrin Gebbe schildert zu Beginn eine eigentlich heimelige Welt. Ein Pferdehof im Grünen, geleitet von einer aufopferungsvollen Frau, die bereits eine Adoptivtochter betreut und dies scheinbar mit Bravour gemeistert hat. Und dann kommt Raya, die das Leben ihrer neuen Mama wie ein Feuersturm verwüstet. Was fast schon als Heimat-Western beginnt, entwickelt sich zu einem wirklich heftigen Drama, denn Raya ist nicht vergleichbar mit anderen Kindern, man hat schnell das Gefühl, in ihr könnte das leibhaftige Böse schlummern. Als Zuschauer könnte man meinen, man betrachte hier die Origin-Story eines Slasher-Killers, so bedenklich sind die Ausbrüche des Mädchens, wenn sie etwa ihr Zimmer verwüstet, Tiere tötet und sogar droht, ihre Mutter im Schlaf zu töten. Gebbe macht es dem Publikum nicht leicht, denn Raya irgendwie zu mögen, scheint fast unmöglich. Man hört immer schon die eigene Stimme im Kopf, die das kleine Biest am liebsten direkt an der nächsten Raststätte aussetzen oder direkt in die Geschlossene sperren würde. Das würden die meisten Menschen wahrscheinlich auch tun, angesichts der hemmungslosen Ausraster und gefährlichen Wesenszüge. Doch der Film verhält sich wie seine Protagonistin Wiebke, er zieht durch!

Raya zu bändigen wird fast zur Lebensaufgabe, was einen psychischen Verfall zu Folge hat. Ist Wiebke zu Beginn noch eine emanzipierte starke Frauenfigur, macht der Film aus ihr immer mehr ein Wrack, das sich mit Tabletten über Wasser hält und sich immer mehr sowohl von Kollegen als auch von Freunden isoliert, denn die raten ihr schnell, die Kleine loszuwerden. PELIKANBLUT zeichnet das Eltern sein als Hölle, als wahrhafte Tour de Force, die Wiebke immer weiter an den Rand der erträglichen treibt. So sehr, dass der Film sich auf den letzten Metern sogar HEREDITARY (2018) anbiedert, was das einzige Manko ist, das man dem Film wirklich vorwerfen kann. Denn der plötzlich eingeführte, okkulte Ansatz zeigt zwar, dass unsere Protagonistin für ihre Tochter bis zum Äußersten geht, im Kontext des gesamten Werkes wirkt er aber eher wie ein Fremdkörper, vor allem weil er nicht ausreichend vorbereitet wird. Auch über das daraus resultierende Ende ist streitbar und ließ zumindest meine Wenigkeit etwas ernüchternd zurück. Im direkten Vergleich mit SYSTEMSPRENGER (2019) fehlt es PELIKANBLUT (2019) etwas an emotionalem Unterbau, gerade was die Figur der Raya angeht. Ich war zwar gefesselt, stellenweise geschockt aber emotional wirklich mitgerissen und mitgelitten habe ich eigentlich nicht. Abseits dieser Drehbuchentscheidung funktioniert der Film aber ganz wunderbar und kann auch inszenatorisch mit einer ruhigen, fast schon dokumentarischen Kamera punkten. Lediglich die Bezeichnung „Arthouse-Horror“, die auf dem Cover der deutschen Heimkino-VÖ prangt, finde ich nicht so ganz gerechtfertigt, denn auch wenn Gebbe durchaus Genre-Elemente aufgreift, nur weil ein paar Nebenschwaden durchs Bild wabern, haben wir es hier für meine Begriffe noch nicht mit Horror zu tun. PELIKANBLUT ist ein Psycho-Drama, das zudem mit guten Darstellern punktet. Nina Hoss ist grandios und auch ihre Filmtochter Raya, gespielt von Katerina Lipovska ist wahrlich imposant.

Die Veröffentlichung von Leonine bietet eine gewohnt sehr gute Bild- und Tonqualität. Extras gibt es leider keine!

Fazit:

PELIKANBLUT (2019) ist eine sehr sehenswerte Symbiose aus HEREDITARY (2018) und SYSTEMSPRENGER (2019), der aber etwas der emotionale Unterbau fehlt, um vollends zu berühren. Eindrucksvoll, packend und schockierend ist Katrin Gebbes zweiter Spielfilm dennoch und gerade für diejenigen eine Empfehlung, die gerne über den Tellerrand hinaus schauen.

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